Wie wir 1958 zurück nach Deutschland kamen

Anmerkung:

Im Oktober 1946 wurden zwangsweise einige Tausend deutsche Spezialisten mit Familienangehörigen als lebende Reparationsleistung in die Sowjetunion umgesiedelt. Ab 1951 mussten die ersten wieder zurück in die DDR. Es gab aber eine Gruppe, die an besonders geheimhaltungswürdigen Projekten mitgearbeitet haben und daher teilweise bis 1958 gefangen gehalten wurden.   Die Rückkehr der letzten deutschen Spezialisten aus der Sowjetunion zog sich bis Februar 1958 hin. Im Folgenden hat Dr. Helmut Breuninger die Vorgehensweise der sowjetischen Behörden und die entsprechende flexible Reaktion der deutschen Spezialisten nach seiner Rückkehr rekonstruiert. Als Quelle dienten ihm:

                   -- Briefwechsel mit seinem Bruder und seinem Vater

                  -- Aufzeichnungen anderer Betroffener

                   -- Eigene Aufzeichnungen aus der Sowjetunion

                   -- Gedächtnisprotokolle direkt nach der Heimkehr 1958

1. Zunächst , ein Sonderfall:

Bei der Verlagerung von Moskau, nach Suchumi blieb Frau Hoch mit ihren 3 Kindern in Tuschino zurück. Ihr Mann, Dr. Hans Hoch, war gestorben. Hans Hoch stammte aus Krems/Österreich, hatte in Göttingen studiert und dort an der Universität und dann in Peenemünde gearbeitet.
In der Sowjetunion war er maßgeblich am ersten V2-Start beteiligt (30.10.1947 in Kapustin Jar). Von der Insel Gorodomlija stieß er im Dez. 1950 mit einigen Leuten zu uns. Seine ursprünglich positive Einstellung zur Sowjetunion schlug schlagartig um, als wir von Kunzewo nach Tuschino umzogen und hier weiter denselben Freiheitsbeschränkungen unterworfen waren wie in Kunzewo. Wie Eitzenberger überwies er seit 1952 Geld nach Österreich; in Krems ließ er sich 1954 durch seinen Bruder ein Haus, kaufen.
Er war mit 7500 Rubel/Monat der Spitzenverdiener unserer Gruppe. Er beantragte für sich und seine Familie die Wiederherstellung der österreichischen Staatsangehörigkeit über seine Verwandten. Am Sonntag, 15.5.55, dem Tag der Unterzeichnung des Friedens­vertrages mit Österreich, hisste er an seinem Haus eine öster­reichische Flagge. Von der Komendantura wurde er aufgefordert, diese einzuziehen. Es ist allgemein in der Sowjetunion nicht üblich, dass Privatpersonen Flaggen hissen, gleichgültig welche und aus welchem Anlass.

Als ich am Samstag, 2.7.55, im Flur unserer Poliklinik auf eine Untersuchung beim Arzt wartete, weil ich leicht fiebrig war, kam Frau Hoch mit Ihrem Mann an und ging gleich zum Arzt hinein. Hoch, der sonst immer gesund aussah, machte einen sehr schlechten Eindruck und ging gebückt. Am Nachmittag besuchte ich ihn in der Wohnung. Er lag ruhig da mit langgestrecktem rechten Bein. Er sagte: "Gestern Abend haben wir schlechtes Konservenfleisch gegessen; davon habe ich jetzt Gallenschmerzen; ich habe etwas zur Schmerzlinderung erhalten, und es bessert sich bereits. Auffallend war aber, dass auch seine Familienmitglieder von diesem angeblich schlechten Fleisch gegessen hatten und sich dabei wohl fühlten. Ich ging nach Hause; ich sah ihn nie mehr lebend.

Am Sonntag, 3.7.55, erfuhren wir nachmittags, dass Hoch ins Krankenhaus gebracht worden war. Sein Zustand hatte sich verschlimmert; Fieber war eingetreten. Nun war gerade Flugtag in Tuschino und deswegen die Straßen nach Moskau gesperrt. Nur mit Sondergenehmigung durften sie passiert werden. Um diese zu erhalten, diagnostizierte die russische Ärztin Blinddarmentzündung, obwohl sie nicht daran glaubte. So wurde Hoch, nachdem etwa 2 Stunden wegen der Überwindung der Formalitäten zusätzlich verflossen waren, in unser abgeschlossenes Krankenhaus, der klinitscheskaja poliklinika Nr.6 im Pokrowski Wal Nr.4, in Moskau gebracht. Diese Klinik unterstand einem Generalmajor; Mathilde hatte 3mal dort gelegen (1951 wegen Venenerweiterung, 1953 wegen Schwangerschaftsblutungen und 1954 wegen Mittelohrentzündung). Frau Hoch fuhr nicht mit, dafür aber ein noch schnell krank geschriebener Begleiter (des sowjetischen Sicherheitsdienstes). Am Montag erklärte; man Frau Hoch, ihr Mann sei operiert worden und befinde sich auf dem Wege der Besserung; er hatte tatsächlich Blinddarmentzündung gehabt, die bereits bis zur aufgebrochenen Vereiterung fortgeschritten war.(Gudrun Hoch sagte später, dass ihr Vater gar nicht am Sonntag, sondern erst am Montag operiert worden sei und dass man deswegen ihrer Mutter am Montag keinen Besuch genehmigt habe). Am Dienstag besuchte Frau Hoch ihren Mann. Sie kam sehr be­trübt zurück. Die Operation hatte 4 Stunden gedauert; das ganze Bauchfell war bereits vereitert und wurde mit Penizillin ausgewaschen.

Ich erinnerte mich an folgendes: Einmal war Hoch im Werk in meinem Zimmer. Als er zum Gehen aufstand, fasste er sich plötz­lich an den Bauch und verzog das Gesicht. Ich fragte, was los sei. "Ach", meinte er, "gelegentlich habe ich hier in der Nähe der Galle Stiche; wenn ich in Österreich bin, lasse ich mich einmal untersuchen." Das war bereits eine Blinddarmreizung gewesen, an der er also, ohne es zu wissen, chronisch litt. Seine ver­meintlichen Magen- und Gallenschmerzen durch Genuss schlechten Fleisches waren bereits hochgradige Blinddarmentzündung; aber er hatte der Ärztin etwas Falsches suggeriert. Außerdem war bei ihm der Blinddarm nicht an der üblichen Stelle, allerdings noch in einer Lage, die bereits in kleinen Anatomien beschrie­ben ist, nämlich der Wurmfortsatz war bei ihm retrocaecal bei Caecumhoehstand (s.Voß und Herrlinger, Taschenbuch der Anatomie, Band II,. S.51)

Frau Hoch ging nun jeden Tag ins Krankenhaus. Einmal nach der Operation hatte Hoch mächtigen Durst, durfte aber nichts trin­ken. Er forderte den neben ihm liegenden Begleiter auf, die Schwester zu rufen, damit sie ihm etwas zu trinken gäbe. Der Begleiter meinte, er sei nicht da, um Krankenschwester zu spielen. Hoch wurde wütend, stand auf, holte sich Wasser und trank. Das hat zweifellos zu seinem Ableben beigetragen. Am Freitag sah ich, dass Frau Hoch ein Glas Kompott bei sich hatte, um es ihrem Mann zu bringen. Ich fragte, ob er das essen dürfe "Ja", sagte sie, "es geht ihm besser; er darf alles essen." Ich sagte zu Mathilde: Nächste Woche ist Hoch tot; denn sonst dürfte er nicht alles essen. Ein Darmdurchbruch war ja auch bereits eingetreten. Ähnlich äußerte ich mich gegen Orlamünder, der Hoch am Donnerstag besucht hatte und optimistisch meinte, die Ärzte lassen Hoch alles essen, also muss es ihm besser gehen. Die Ärzte lassen auch in einem hoffnungslosen Fall den Patienten alles essen, was er sich wünscht.

Anfangs der folgenden Woche waren die Berichte über den Zustand Hochs schon wieder bedenklicher: ein zweiter Darmdurchbruch. Hoch wurde schwächer. Am Donnerstag stellte sich eine Lungenentzündung ein, und am Freitag, 15.7.55 kurz vor Mitternacht starb er, ein 42jähriger.

Am Samstag fuhr ich daher in die Stadt und kaufte für den nicht ganz 12jährigen Werner Hoch eine schwarze Hose für 105 Rubel und mir ein seidenes Hemd, Größe 42, für 200 Rubel. Am Sonntag, 17.7.55, ging ich ins GUM und kaufte 2m roten Satin für 26.60.und 2m weißen Satin für 21 Rubel. Das brachte ich Frau Eitzenberger, die daraus rot-weiß-rote Kranzschleifen machte. Da rot eine in der Sowjetunion sehr beliebte und weiß eine neutrale Farbe ist, scheint es unsern Russen nicht auf­gefallen zu sein, dass wir Kranzschleifen in den österreichischen Landesfarben für Hochs Kremation verwendeten.

Am Montag, 18.7.55, war die Kremation. Morgens war ich noch mit Orlamünder bei unserem Abteilungsleiter Dworjezki, um ihm zu sagen, dass fast alle Kollegen teilnehmen werden und dazu viele Familienangehörige. Die ursprünglich bereit gestellte Buszahl war zu gering. Dworjezki erklärte, wir machen operazionnoje reschenije, d.h. ohne Rücksicht auf alles andere wird alles für die Kremation zur Verfügung gestellt.

Als wir uns in der Mittagszeit bei der Komendantura sammelten, trat ein höherer Verwaltungsmensch des Werkes Postfach 1323 auf mich zu, sagte, er werde einen kurzen Nachruf halten und ich möchte ihn dann ins Deutsche übersetzen. Er gab mir seinen Zettel, damit ich mich schon über den Inhalt informiere und dann fließend vortrage. Ich las den Anfang: "Dr. Johannes Hoch, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik,..." Ich sagte: zu dem russischen Industriemanager, Hoch habe sich immer als Österreicher betrachtet und daher möchte ich ihm raten, diese Stelle abzuändern. Darauf sagte er: "Dann lassen wir das eben weg."

Mathilde blieb mit Emma und Karl zu Hause. Wir fuhren in einer Kohorte von etwa 7 Bussen und Personenwagen, darunter 3 große Busse, von Tuschino durch Moskau hindurch zum Krematorium im Gelände des ehemaligen Donskoj Klosters. Hoch war aufgebahrt. Drei blinde Musiker spielten Orgel und Geige. Der Manager verlas seinen Nachruf, ich übersetzte. Orlamünder sprach einige Worte für uns Deutsche. Die Musiker spielten nochmals und dann ging der Sarg mit Hoch in die Tiefe. In diesem. Moment machten Frau Hoch, und die ältere Tochter Gudrun Bewegungen, als ob sie sich mit in die Tiefe stürzen wollten. Zwei von uns hielten sie fest. Der Sarg war so hoch mit Krän­zen belegt, dass die nach der Versenkung des Sarges sich automatisch vorschiebenden Deckel einiges von dem Schmuck ein­klemmten. Nach der Versenkung hörte man, wie unten ein Wagen wegrollte. 2 Jüngere Leute von uns, einer davon Lindenborn, wohnten der Verbrennung als Zeugen bei. Dies  war die dritte Kremation in Moskau, bei der ich war. Die erste war Frau Kasimir am Montag, 8.10.51; die zweite Naumann am Donnerstag, 22.5.52.

Die Urne mit Hochs Asche wurde offiziell nach Krems/Österreich geschickt. So kam er vorzeitig nach Hause. Er hatte im Frühjahr 55 als unsere Situation unklar war, öfters die Meinung geäußert, dass er etwa in einem halben Jahr nach Österreich komme. Sein Glaube ging in Erfüllung, aber als Asche. Er war nicht der erste. 1952 kehrte Naumann, auch als eine Urne in die DDR zurück; auf dem diesen begleitenden Totenschein stand nicht die wahre Ursache Selbstmord durch Erhängen, sondern etwas anderes.

Etwa eine Woche nach Hochs Kremation kamen die Staatsangehörigkeitsausweise aus Österreich für die ganze Familie Hoch an. Was Hoch selbst betraf, wurde der Ausweis nachträglich in Österreich für ungültig erklärt, weil er ausgestellt worden war, als Hoch bereits tot war. Ein Toter kann aber keine neue Staatsangehörigkeit erwerben. So ist Hoch als staatenlos gestorben. Denn die Ausweise bescheinigten nicht das Bestehen   der österreichischen Staatsangehörigkeit, sondern deren Wiederherstellung.

Frau Hochs Ziel war nun, so schnell wie möglich nach Österreich zu kommen. Die sowjetischen Stellen versprachen ihr das, aber, wer glaubt schon an deren Aussagen nach unsern Erfahrungen vom 30.6.55. So ließ sie sich abwechslungsweise von Golecki und mir beraten. Der Besuch ausländischer diplomatischer Vertretungen war uns allen streng untersagt; dazu gehörte also auch die österreichische Botschaft mit ihrem Botschafter Bischoff.

Am Donnerstag, 4.8.55, nach 23 Uhr, als meine Familie schon im Bett war und ich mich auch gerade dafür richtete, aber wegen des heißen Wetters die Türen, auch die Haustür, noch etwas offen standen, hörte ich jemand ums Haus gehen. Ich ging hinaus und sah Frau Hoch mit ihrem Hund. Sie kam auf mich zu und flüsterte: "Morgen geht Gudrun auf die Botschaft." Sie bat mich, für sie einen Brief zu schreiben. Ich tat dies; sie brauchte den Brief, nur noch zu unterschreiben. Außerdem schrieb ich für Gudrun einen kleinen Zettel, was sie auf der Botschaft über uns andere aussagen soll, dass jetzt Vertreter der DDR da wären und sich manche für Westdeutsehland erklärten, wie viele wir seien usw. Am nächsten Morgen ging ich auf dem Weg zur Arbeit zu Hochs, die noch alle im Bett lagen. Ich gab den Brief und den Notizzettel ab und wünschte viel Glück. Auf die Idee, Gudrun auf die Botschaft zu schicken, hatte Stalinpreisträger Golecki Frau Hoch gebracht, wie ich später von ihm selbst erfuhr.

Nach der Mittagspause ging ich auf dem Weg zur Arbeit erst wieder zu Hochs. Gudrun war zurück. Alles hatte geklappt. Sie hatte sich mit einem Botschaftsangestellten für Donnerstag, 11.8.55, in der Landwirtschaftlichen Ausstellung verabredet. Für diesen Donnerstag gab ich Gudrun einen Zettel mit, den sie dem Österreicher aushändigen sollte. Er enthielt die Namen aller derjenigen, die sich von uns nun für Österreich oder Westdeutschland erklärt hatten, und die Bitte, die Namen der letzteren der Regierung in Bonn mitzuteilen. Ich wusste allerdings nicht, dass damals noch keine diplomatischen Bezie­hungen zwischen Wien und Bonn bestanden. Gudrun kam an diesem Donnerstag erst sehr spät nach Hause. Am Freitag erfuhr ich, dass alles in Ordnung sei.

Gudrun hatte erkundet, dass in der Nähe der österreichischen Botschaft eine Anstalt für chemische Reinigung und zum Färben von Kleidern ist. Frau Hoch ging nun auf die Komendantura und sagte, sie wolle am Samstag, 13.8.55 in die Stadt und ein Kleid wegbringen, damit es schwarz, gefärbt werde. Sie wünsche als Begleitung Frau Majewskaja. Bei Familie Hoch war die Komendantura schon daran gewöhnt, auf spezielle Begleiter­wünsche einzugehen; denn Hoch hatte zu den Spitzen unter uns gehört. Frau Majewskaja sah gut und vornehm aus, sprach sehr gut deutsch und war etwas schwerfällig. Frau Hoch, Gudrun und Frau Majewskaja gingen also am Samstag nach Moskau, Frau Hoch mit ihrem Kleiderpaket unterm Arm. Nahe am Ziel beschleunigten Frau Hoch und Gudrun ihre Schritte; Frau Majewskaja hatte Mühe, zu folgen. Plötzlich gingen die beiden Hochs durch eine Tür in ein Haus und Frau Majewskaja automatisch hintendrein. Das war aber, wie sie nun von innen feststellte, keine chemische Reinigung und Färberei, sondern die österreichische Botschaft. Da war nun der Inspektor des Staatssicherheitsdienstes, der dafür sorgen sollte, dass keiner von uns unerwünschte Beziehungen anknüpft, auf gar keinen Fall mit einer Botschaft, selber in einer Botschaft. Frau Hoch erhielt ihren Pass ausgehändigt, und dann kehrten alle 3 wieder zurück, nachdem das Kleid doch noch schnell in die richtige Färberei gebracht worden war. Die Komendantura machte, wegen dieses Vorfalls nichts gegen Frau Hoch. Nur eine Frage wurde ihr gestellt, wieso denn in dem Pass ein Bild von ihr bereits in Trauerkleidung sei, wo sie doch behaupte, sie hätte das Bild nach Österreich geschickt und es sei dort den Behörden übergeben worden; seit dem Tode ihres Mannes seien doch erst 4 Wochen vergangen. Die Komen­dantura merkte so, dass vorher schon jemand auf der Botschaft gewesen war.

Immerhin blieben Hochs, noch einige Zeit in Tuschino, nachdem wir bereits nach Suchumi abgereist waren. Am 18.11.55 kehrten sie nach Krems zurück.

Damit war der Bann gebrochen; die ersten Menschen unserer Abwehrraketengruppe waren ins Ausland zurückgekehrt, und zwar ins westliche. Es bestand kein Grund mehr, mindestens schon die Familienangehörigen zu entlassen.

2. Anfang Dezember 55 traf in Agudsera (so allein offiziell spätestens seit 1.9.60), ein Vertreter der DDR ein, den wir nach Zusage von Panowkin bereits bei unserer Ankunft in Suchumi im Sept.55 hätten antreffen sollen. Es war ein SED-Funktionär namens Hartenhauer mit Frau und Kind. Ihm wurde sein Gehalt in Deutschland weiter bezahlt. Für den Aufenthalt hei uns erhielt er ca. 2000 DM-Ost/Monat, die er zum offiziellen Kurs 1 DM-Ost = 1,80 Rubel umgetauscht erhielt, so dass er etwa 3600 Rubel/Monat hatte. Unsere sowjetische Verwaltung bot ihm an, dass er ebenso wie wir, Geld nach der DDR überweisen könne, also die Hälfte seiner Bezüge (1800 Rubel/Monat) zu unserm Vorzugskurs 1 Rubel = 2 DM-Ost. Hätte er davon Gebrauch gemacht, so hätte er monatlich 3600 DM-Ost nach der DDR über­weisen können. Aber, er machte davon nicht Gebrauch, weil er sich nicht eventuellen späteren Vorwürfen der Spekulation aussetzen wollte. Es war natürlich Hartenhauers gutes Recht, uns allen seine DDR als das für die Repatriierung zu wählende Deutschland zu empfehlen.

3. Am 24.1.56 wurde ich zu einem Gespräch im Amtszimmer von Federjenko vorgeladen. Da war ein Herr, der sich in fließendem Deutsch freundlich als Vertreter des OWIR (otdjel wis i re-
gistrazii; Abteilung für Visa und Registrierung) des georgischen Innenministeriums in Tbilissi vorstellte. Er fragte mich zunächst, ob ich Österreicher wäre. Ich sagte: Nein, aber Westdeutscher. Dann unterhielt ich mich mit ihm über meinen Heimatschein. Ich nannte ihm als Ziel meiner Repatriierung Heidenheim, wo mein Vater lebt. Er sagte baldige Rückkehr nach Deutschland zu. Er sprach auch noch mit andern unter 4 Augen. Bei Zolldan sagte er, dass er im November zu Hause wäre. Bei Dahl waren einige Unstimmigkeiten in seinen Personalangaben. Bei Stresau wurde über eventuell nicht ganz erlaubt aufgenommene Fotos gesprochen. Auch mit Buschbeck unterhielt er sich.

4. Kurt Hartenhauer bearbeitete besonders 2 vordringliche Fälle der Repatriierung: Töpfer und Schiller. Töpfer hatte Frau und Schwiegermutter. Letztere hatte einen schweren Oberschenkelbruch auf der Insel Gorodomlija erlitten, der nicht mehr heilte. So lag sie dauernd im Bett, obwohl sie sonst ganz gesund war. Ihre Tochter, Frau Töpfer, war hingegen an einer inneren Krankheit fast dauernd leidend. So bat Töpfer den DDR-Vertreter Hartenhauer, sich für eine vorzeitige Repatriierung seiner leidenden Familie einzusetzen. Schiller hatte im Sommer 1954 einen Gehirnschlag erhalten. Seither war er arbeitsunfähig und invalid. Er hatte typisch die Krankheit Lenins. Wie bei diesem dachte man auch bei ihm an die Spätfolgen einer nicht ausgeheilten Syphilis. Aber das ist in beiden Fällen nicht erwiesen. Schiller wurde mit uns nach dem Süden verlagert. In Berlin hatte er eine Frau und einen Sohn, den er noch nie gesehen hatte.
Am Sonntag, 13.5.56, war sehr schönes Wetter. Ich war auf unserm hintern Balkon und machte Aufnahmen mit Teleskopobjektiv. Da sah ich Schiller langsam spazierend die Straße von
Zolldans Haus her kommen. Es war etwa um 11 Uhr. Kurz hinterher, nahm die Lufttemperatur durch die Sonnenstrahlung stark zu, und am nächsten Tag erfuhr ich, dass Schiller bei seinem
weiteren Spaziergang irgendwo in der Nähe des "Zollhauses" einen neuen Schlaganfall erhalten hatte und von einem Deutschen sich mühsam an einem Mast haltend gefunden worden war. Er
wurde sofort nach Sinop zur stationären Behandlung gebracht. Der Blutdruck blieb aber hoch (ca. 250),und am Dienstag, 15.5.56, starb er.
Indessen lag bereits einige Zeit die Genehmigung zur vorzeiti­gen Repatriierung von Frau Töpfer mit Mutter und von Schiller vor. Hartenhauer war entsetzt, dass Herr Töpfer nicht mit den beiden Frauen zurückreisen sollte (wichtige Arbeiten hatte er nicht mehr). Er protestierte und erreichte auch die Geneh­migung für Herrn Töpfer; aber dadurch war etwas Zeit vergangen. Nun war die Rückreise nach der DDR perfekt: Töpfers am Mitt­woch, 16.5.56; Schiller am Donnerstag, 17.5.56, jeweils mit medizinischer Begleitung. Töpfers fuhren ab, und Schiller wurde an seinem geplanten Reisetag in Gulripschi beerdigt. Am Abend vor Schillers Beerdigung wurde uns ein erweiterter Bereich der freien Bewegung bekanntgegeben; nun durften auch die Männer ohne Begleitung nach Suchumi. Hartenhauer hatte Frau Schiller telegraphisch fragen lassen, ob sie die Überführung ihres toten Mannes nach Berlin wünsche, oder die Kremation in Moskau mit Übersendung der Urne. Bis Donnerstagmittag lag keine Antwort vor. Also fand die Beer­digung am frühen Nachmittag statt. Als Hartenhauer wieder nach Hause kam, war ein Telegramm der DDR-Botschaft da, Frau Schiller wolle ihren Mann haben. So wurde nach den entsprechenden Vor­bereitungen (Zinnsarg usw.) Schiller anfangs September wieder ausgegraben und weggeschickt.

5. Kummer erreichte eine vorzeitige Repatriierung auf fol­gende Weise: Er stellte bei sich dauernde Blinddarmreizung fest. Ein Arzt kann das kaum kontrollieren. Es drohte so an­geblich eine Blinddarmoperation. Nun ist Kummer chronisch zuckerkrank. Operationen bei Zuckerkranken verlaufen sehr häufig mit beträchtlichen Komplikationen. Die Suchumer Ärzte schreckten davor zurück und befürworteten die Rückkehr Kummers nach Deutschland. Sie wurde genehmigt. Familie Kummer fuhr kurz vor dem 4.9.56 ab. Wie sich nachträglich herausstellte, war das nur wenige Wochen vor der Repatriierung der DDR-Angehörigen. Kummer hat sich bis heute (1965) noch nicht am Blinddarm operieren lassen.

Das waren die Fälle vorzeitiger Repatriierung, ob tot oder lebendig.

6. Die von der DDR-Delegation am 11.8.55 in Moskau zugesagten DDR-Personalausweise blieben, aus. Dafür trafen immer mehr Staatsangehörigkeitsausweise aus der BRD (s. Text zu Bild Nr. 343) ein, und schließlich noch der Pass für Stalinpreisträger Dr. Fischer am 22.5.56. Hartenhauer fuhr sofort nach Moskau und kam nach wenigen Tagen am 30.5.56 wieder zurück. Anträge für DDR-Pässe konnten nun für alle Erwachsenen gestellt werden das wurde einem Teil von uns, darunter auch Möller, von Hartenhauer in einer kleinen Versammlung persönlich bekannt gegeben. Dabei teilte er auch mit, dass die BRD-Angehörigen ebenfalls über die DDR repatriiert würden und dazu DDR-Durchreisevisen erhielten.

Wer sich für BRD oder Österreich entschlossen hatte oder noch schnell entschloss wie Möller, stellte keinen Antrag. Frau Ostermann beantragte für sich einen DDR-Pass. Ihr Mann machte auf seinem Antrag die Einschränkung "gültig für 3 Monate nach der Rückkehr"; er wollte sich erst die Situation in der DDR ansehen und sich innerhalb 3 Monaten eventuell für die BRD. ent­schließen, während seine Frau in der DDR bleiben sollte, um das angesparte Geld nicht verloren gehen zu lassen. Das wurde von der DDR rundweg abgelehnt. Auch Möller wollte selber in die BRD, aber seine Frau, in die DDR schicken, wo er Haus und Geld hatte, was ebenfalls, abgelehnt wurde.

Bei dieser Paßaktion half Gerhard Gronau, der auch noch einmal mich am 2.6.56 sicherheitshalber fragte; Ehrenreich und Kehse machten Passbilder. Hartenhauer fuhr dann mit den ganzen An­trägen wieder nach Moskau zur DDR-Botschaft und kam nach ei­niger Zeit mit den ausgestellten DDR-Pässen zurück.

7. Hartenhauer erklärte nach seiner Rückkehr aus Moskau um den 20.6.56, dass auch diejenigen, die nach der BRD gehen wollten, zweckmäßig DDR-Pässe annehmen sollten. Sie würden
dann, von der DDR, die Genehmigung zur Ausreise nach der BRD erhalten. Bei einem privaten Besuch bei mir am 3.7.56 begründete er das damit, dass bei direkter Repatriierung aus der Sowjetunion nach der BRD wir selbst in ein Lager kämen; das wünsche man nicht; wir sollten nach Möglichkeit schon unsern endgültigen Aufenthaltsort und Arbeitsort in der BRD wissen; dann könnten wir als Auswanderer aus der DDR in die BRD behandelt werden und würden nicht als Rückkehrer aus der Sowjetunion erscheinen. Unsere Sachen könnten wir mitnehmen, auch das, was wir erst kurz vorher von der HO bezogen haben. Über meinen Vater beschaffte ich mir daraufhin eine Zuzugs­genehmigung vom Landrat Heidenheim und ein Proforma-Stellen-Angebot der Firma Ploucquet.

Bis Ende Juni waren noch BRD-Pässe als eingeschriebene Briefe von der BRD-Botschaft in Moskau (existierte seit 16.3.56; Botschafter Wilhelm Haas) für Familie Lertes und Herrn Kranich eingetroffen.

8. Goldberg ging am Montag, 2.7.56, zu Federjenko, um zu sagen, dass nun eigentlich auch die BRD-Angehörigen Pässe beantragen müssten, soweit sie noch keine haben. Federjenko riet ihm, ähnlich zu verfahren wie im April bei den Anträgen für direkte Geldüberweisung nach der BRD, nämlich jeder möge an Oberst Kusnezow, unsern Betreuer in Moskau, schreiben, und wenn dann  mehrere solche Briefe vorlägen, würde schon irgendeine Antwort erteilt. wir hätten auch eine Antwort auf unsere Geldüberweisungsanträge erhalten (für das Jahr 1956 ist im Staatshaus-
halt kein entsprechender Devisenbetrag vorgesehen). Am Dienstag, 3.7.56, erzählte Goldberg sein Gespräch mit Federjenko in meinem Zimmer, wo auch Orlamünder und Tschauner saßen. Ich entwarf einen Rahmenbrief an Kusnezow und einen Paßantrag für die BRD-Botschaft. Ersterer enthielt die Bitte, den beiliegenden Antrag für einen BRD-Pass an die BRD-Botschaft weiter zu leiten. Jeder schrieb individuell. Die Briefe wurden auf Anraten von Federjenko im Vorzimmer von Dworjezki abge­geben, die meisten am Dienstag und Mittwoch. Ich gab meinen Brief erst am Donnerstagmorgen ab. An diesem Tag stürzte gegen 11 Uhr Stresau in unser Zimmer und sagte, Ehrenreich hätte gerade im Konstruktionsbüro ausposaunt, dass alle gemeinsam Paßanträge für Westdeutschland abgegeben hätten, nur der An­stifter Breuninger nicht. Ich stellte nach einiger Überlegung folgende Indiskretionslinie fest: Dworjezki - Federjenko -Hartenhauer - Kehse - Ehrenreich. Dworjezki hatte die Briefe Federjenko gegeben, und dieser hatte sie am Mittwochabend mit Hartenhauer durchgesprochen, wobei es ziemlich hitzig herge­gangen sein soll; Federjenko machte Hartenhauer den Vorwurf, dass es ihm nicht gelungen sei, Deutsche für die DDR zurück­zugewinnen; im Gegenteil, es seien noch mehr abgefallen. Am späten Mittwochabend machten Hartenhauer, Kehse und Ehren­reich zusammen Fotos und unterhielten sich dabei. Ich ging, am Donnerstag nach dem Mittagessen zu dem über mir sitzenden Hartenhauer und stellte ihn freundlich wegen der Indiskretion zur Rede. Er antwortete natürlich ausweichend. Am selben Nachmittag wurden  alle Briefe von Dworjezki zurück­gegeben, weil er dafür nicht zuständig sei. Wir adressierten sie um und gaben sie direkt bei Federjenko ab. Bis Kusnezow dürften sie weiter geleitet worden sein.

9. Am Dienstag, 10.7.56, nach Arbeitsschluss, war ViertelJahresversammlung unserer Abteilung. Ich war diesmal nicht dabei, aber Rogge. Dworjezki erklärte unter anderem: Breuninger und Orlamünder verstehen es seit einem halben Jahr, solche Monatspläne aufzustellen, dass sie den Plan immer erfüllen, ohne etwas zu tun. Am Mittwoch ging ich zu Dworjezki. Ein großer,
fester junger Mann war bei ihm, der mir als "Vertreter des Ministeriums" vorgestellt wurde. Dworjezki fragte mich, ob er beim Gespräch mit mir da bleiben dürfe. Ich hatte nichts dagegen. Ich fragte Dworjezki nur, warum er mir vorher nie etwas gesagt hätte, wenn er mit mir nicht zufrieden sei. Wir sprachen dann über verschiedenes. Jedenfalls war die Ursache der öffentlichen Bemerkung Dworjezkis über Orlamünder und mich die, dass wir als Anstifter für die Paßbriefe an Kusnezow galten.

10. Am Montag, 23.7.56 traf eine 3 Mann starke DDR-Delegation ein. Einer davon hieß Etzel, ein anderer Künzel; letzterer war von den Flugzeugwerken im Raume Dresden und war früher
selbst als Spezialist in der Sowjetunion gewesen. Die Delegation war von dem oben in Punkt 9 erwähnten jungen Mann be­gleitet, der sich dadurch auszeichnete, dass er jetzt wie damals in unserer Gegenwart nichts sagte.

Am Dienstag wurden einzelne Ingenieure unserer Gruppe, die sich, zur DDR bekannten, vorgeladen. Es wurde über ihren möglichen Arbeitseinsatz in der DDR gesprochen. Die Delegation machte vornehmlich Propaganda für den Raum Dresden - Pirna, wo sich 1954 die ostdeutsche Flugzeugindustrie etabliert hatte. Am Abend desselben Tages wurden noch 7 Mann zusammen vorgela­den: Bleschke, Fischer, Hegermann, Kranich, Lertes, Schirge, Stresau. Ihnen wurde erklärt, dass sie über die DDR nach West-Berlin oder Westdeutschland entlassen würden. Diese Gruppe bestand aus den Bereits-Besitzern westdeutscher Pässe (Fischer, Kranich, Lertes) und denen, die ihre Frauen in Westberlin hatten (Bleschke, Hegermann, Schirge, Stresau). Am Mittwoch wurden vornehmlich solche vorgeladen, die früher in Kujbyschew waren, darunter alle Mechaniker gemeinsam. Hier traf die Delegation fast durchwegs auf Ablehnung, sich in der Gegend von Dresden beschäftigen zu lassen. Die meisten wollten unbedingt wieder zurück nach Berlin.

Nachdem am Dienstag die nun sogenannten "echten" Westdeutschen vorgeladen worden waren, kamen am Donnerstag die restlichen, also die "unechten" Westdeutschen an die Reihe. Von sowjetische Seite waren Dworjezki und der erwähnte junge Mann dabei, von Seiten der DDR die 3 Mann Delegation und Hartenhauer. Von der Delegation wurde ausgeführt, wir würden alle in die DDR re­patriiert und müssten daher DDR-Pässe annehmen; erst in der DDR würde dann entschieden, wer auf Antrag weiter in die BRD fahren dürfe. Heilbron fragte, ob man solche Anträge schon jetzt an die DDR stellen könne. Es wurde mit ja geant­wortet. Am meisten protestierte Sattler gegen die vorgeschla­gene. Methode; denn er wusste genau, dass ihm die DDR nie die Auswanderung nach der BRD genehmigen würde. Seine Frau mit 3 Kindern befand sich nämlich in Ostberlin und wollte dort blei­ben. Außerdem war dort noch eine Frau, die in Monino 3 unehe­liche Kinder gezeugt hatte, darunter das zweite von Sattler. Sattler wollte allein nach der BRD. Bei ihm bedeutete also die Repatriierung nach der BRD eine Trennung von seinen näch­sten Angehörigen. Es entspann sich daher eine heftige Auseinandersetzung zwischen Hartenhauer und Sattler. Ostermann war nicht hei dieser Besprechung, weil er gerade in Urlaub verreist war.

Nach einem Ausflug an den Riza-See am Samstag, 28.7.56. verschwand diese Delegation wieder.

11. Nachdem obige Delegation weg war, nahm Hartenhauer seinen Jahresurlaub. Ich brachte ihm daher meinen Antrag an das Innenministerium der DDR auf Auswanderung nach der BRD im Anschluss an die Repatriierung am Mittwoch, 1.8.57 in die Wohnung. Er leitete ihn über die DDR-Botschaft weiter; wer noch solche Anträge einreichte, weiß ich nicht genau. Gleichzeitig lagen bei der BRD-Botschaft in Moskau Anträge für Pässe für mich und meine Familie.

12. Am Dienstag, 4.9.56. wurden wir alle für 10 Uhr in den Klub geladen, diesmal mit Frauen im Gegensatz zum 30.6.55. Auf dem Podium des Klubsaales war eine DDR-Delegation: Wolff, Staatssekretär des Ministeriums für Schwermaschinenbau: Streich, Konsulatsbeamter der DDR-Botschaft in Moskau: Bergmann vom Innenministerium der DDR; Etzel und Künzel, die schon bei der vorigen Delegation dabei waren; eine weibliche Schreibkraft und ein Sekretär namens Hamme. Natürlich fehlte Hartenhauer nicht. Einige sowjetische Menschen saßen dabei. Von der DDR wurde bekannt gegeben, dass jetzt un­sere Repatriierung stattfinde, verteilt über mehrere Trans­porte, der erste bereits in etwa 2 Wochen. Bezüglich derje­nigen, die nach der BRD wollten, wurde erklärt, sie müssten DDR-Pässe annehmen und könnten dann mit DDR-Genehmigung weiter fahren. Orlamünder protestierte gegen letztere Methode, ebenso Erwin Lertes im Namen seines in Urlaub verreisten Vaters.

In den folgenden Tagen wurden mit den DDR-Angehörigen provisorische Arbeitsverträge geschlossen. Dabei machten sich einige Deutsche gegenseitig die besten Stellungen streitig;
Hartenhauer sagte mir anschließend, dass er darüber erstaunt war, wie schlecht sich gegenseitig deutsche Akademiker machen; er hätte sich früher unter einem Akademiker einen andern Charakter vorgestellt.          

13. Am Montag, 10.9.56. wurde ich von der DDR-Delegation vor­geladen. Kein Sowjetmensch war bei dieser Unterhaltung an­wesend. Da waren Bergmann, Wolff, Streich, Künzel und Harten­hauer. Bergmann erklärte mir, mein Antrag sei genehmigt. Wenn ich jetzt einen DDR-Pass nehme, dann könne ich über Leip­zig in die BRD reisen. Meine Kisten könne ich gleich mit der Heidenheimer Adresse versehen. Ich beantragte für mich und meine Familie Pässe und ließ mich für den 4.Transport am 6.10.56 vormerken.

Am 11.9.56 wurden mir die Pässe von Streich ausgehändigt. Als Reiseziel stand im Pass "Leipzig". Pingel machte es unab­hängig von mir wie ich; auch bei ihm stand als Reiseziel "Leipzig", während bei den beiden etwas später uns anschlie­ßenden Goldberg und Lonn der westdeutsche Ort als Reiseziel im DDR-Pass stand. Die andern Westdeutschen waren teils böse auf uns, weil sie uns für Abtrünnige hielten. Die Delegation fuhr, Streich ausgenommen, Mitte September wieder weg.

14. Seit 1954 beschäftigte ich mich im Betrieb mit dem Bau von zweiachsigen dynamischen Prüfständen für Flugkörperregelein­richtungen. Der erste Zweiachsenstand wurde gerade im Aug. 1955 fertig und blieb nach Abnahme durch den Ing. Shukow im Werk Postfach 1323 in Moskau. In Agudsera wurde der 2. Stand gebaut. Die elektrische Schaltung und die Gesamtleitung war meine Angelegenheit] die mechanische Konstruktion des eigentlichen Drehtisches stammte von Senst, die Konstruktion des Bedien­pultes von Fuhrmann und .die Stromversorgung von Goldberg; Beranger machte die Montage in der Werkstatt; Orlamünder führte mit Friedrichs die Laborvermessungen durch. Der 2. Prüfstand war für ein neues Werk in Chimki bei Moskau bestimmt, das unter der technischen Leitung von Panfilow und der all­gemeinen Leitung von Kutjopow stand. Zur Abnahme erschien nun in den  ersten Septembertagen ein gewisser schwarzhaariger junger "Mischa", der früher Gruppenleiter im Werk 1323 gewesen war (Luft-Luf t-Rakete Scha-Em) , und nun in Chimki eine Abtei­lung von etwa 40 Mann unter sich hatte; mit ihm waren noch 2 junge Ingenieure.

 

Am 6. oder 7.September kam Mischa allein in mein Zimmer, wo ich auch "gerade allein war. Es fand etwa folgendes Gespräch statt:

Mischa: Jetzt werden alle repatriiert.

Ich: Ja, endlich.

Mischa: Ein paar gehen nach Westdeutschland; Béranger geht wohl nach Westdeutschland.

Ich: Nein, Béranger geht nach Ost-Berlin; aber ich möchte nach Westdeutschland gehen, weil ich alle meine Verwandten da habe.

Mischa: Sie, das kommt nicht in Frage.

Ich: Wenn ich aber dazu die Genehmigung der Regierung der DDR erhalte.

Mischa: Das hat nichts zu sagen; Sie gehen nicht nach West­deutschland.

Von diesem Gespräch erzählte ich damals niemandem etwas. Bei der Abnahme des Prüfstandes trat eine Pause ein, weil ein mechanischer Teil (die speziellen Schleifringübertrager) repariert werden musste. So fuhr Mischa zum Wochenende nach Moskau und kam etwa am 11.9.56 wieder. Er lud 6 Deutsche im Namen seines Chefs Panfilow zu einem Wjetscher (abendliches Zusammensein mit kalter Platte und Getränken) in unserm Spei­sehaus (Stolowaja) ein: Bleschke, Breuninger, Fischer, Golecki, Orlamünder, Senst. Jeder von uns erhielt ein kleines Trinkhorn als Andenken. Wir tranken einiges, und es gab die übli­chen diplomatisch formulierten Trinksprüche. Kein Wort mehr davon, man dürfe nicht nach Westdeutschland gehen. Orlamünder organisierte zum 13.Sept. eine Gegeneinladung in seiner Wohnung, wozu wir alle finanziell beitrugen.

15.  Ab Montag, 17.9.56, nahm ich meinen Jahresurlaub. Meine Arbeit war abgeschlossen; mein Rücktransporttermin fiel in den Urlaub. Also konnte keine sowjetische Stelle mit der Be­gründung, ich hätte noch etwas fertig zu machen, meinen Rück­transport verschieben.

Am Abend des 17.9- fand im Klub ein großes Abschiedsbankett für. alle Deutschen statt. Der erste Transport fuhr am 19. Sept. ab. Pingel wollte mit dem 2. oder 3. Transport fahren. Dworjezki erklärte, das gehe nicht, Pingel hätte noch etwas zu tun, was aber gar nicht stimmte. So wurden wir vier schließ­lich alle zum gleichen 4.Transport am 6.10.56 eingeteilt. In jedem Transport fuhren einschließlich Familienangehörigen etwa 30 Leute. Hartenhauer machte die Transportlisten fertig; sie wurden zu Kusnezow nach Moskau, Postfach 1037? geschickt, und dieser sorgte für die sowjetischen Ausreise- und polnischen Durchreisevisen. Das Frachtgut wurde jeweils 2 bis 3 Tage vor dem Transport ins "Zollhaus" geschafft; dort wurde es von einem Zollbeamten oberflächlich kontrolliert;  gleichzeitig waren aber noch Spezialisten für Literatur, Fotos und Filme dabei, die bedeutend genauer kontrollierten. Bewegliche Filme und Tonbänder mussten vorgespielt, werden. Dann wurden die Kisten zum Güterbahnhof Kelassuri gefahren.

Für den 4. Transport begann die Zollabfertigung am Mittwoch, 3.10.56. Ich hatte mich, bei Hartenhauer ziemlich an den Schluss der Abfertigungsliste schreiben lassen, so dass ich erst am Donnerstag drangekommen wäre. Aber Pingel der viel weniger Gepäck hätte, hatte sich ziemlich für den Anfang gemeldet. So fiel es bereits am Mittwochmittag auf, dass   die Lastwagen nie bei, ihm vorfuhren, sondern immer bei andern des Transports, die in der DDR angeblich bleiben wollten. Schließlich gelang es zu erfahren, dass wir vier auf der russischen Abfertigungsliste überhaupt nicht standen. Wir versuchten gegen 16 Uhr, Irgendeinen zuständigen sowjetischen Menschen zu erreichen. Aber niemand war da, kein Dworjezki, kein Federjenko. Wie informierten Hartenhauer in seiner Wohnung. Er versuchte seinerseits, jemand Zuständiges zu erreichen, was auch ihm nicht gelang. Er sagte zu, sich gleich am nächsten Morgen der Angelegenheit anzunehmen. Er dachte nur an ein Versehen.

16. Am. Donnerstag, 4.10.56, standen meine 33 Kisten abholbereit da. Hartenhauer, der noch anwesende Streich und die zuständigen sowjetischen Menschen waren morgens mit Grosse und dessen Familie zum Flugplatz Dranda gefahren; Grosse konnte angeblich das Eisenbahnfahren nicht ertragen und kehrte daher mit Flugzeug zurück.

Gegen 11 Uhr wurden wir 4 zu Dworjezki gerufen. Im Vorzimmer mussten wir noch, warten. Nach einiger Zeit kamen aus dem Zim­mer Dworjezkis Hartenhauer und Streich mit ziemlich wütenden Gesichtern und gingen an uns vorbei hinaus. Wir traten ein. Da war außer Dworjezkl der stellvertretende Direktor von Sinop und erklärte uns: Er sei von Oberst Kusnezow informiert worden, dass bei uns vieren noch eine Unklarheit, bestehe. Breuninger, Goldberg und Lonn hätten im Sommer an ihn Briefe gerichtet mit Anträgen für BRD-Pässe. Pingel hätte vor kurzem einigen sowjetischen Stellen gegenüber geäußert, dass auch er. nach der BRD gehen möchte. Aber von uns seien nun DDR-Pässe vorgelegt worden. Wir möchten daher alle vier in einem Brief an ihn klar machen, was wir eigentlich wünschten, ob wir unsere Einstellung geändert hätten und in der DDR bleiben wollten. 

Wir entgegneten, dass er, Tschelidse, doch wisse, was die DDR-Delegation gesagt habe, dass alle DDR-Pässe annehmen müssen und dann mit - Genehmigung der DDR weiter nach der BRD fahren können. Tschelidse ging darauf nicht ein, sondern wiederholte stur seine erste Ausführung; natürlich könnten wir jetzt nicht am 6.10 fahren, sondern erst später.

Das war nun das erste Mal gewesen, dass sowjetische Menschen seit unserer Anwesenheit in Suchumi etwas zu unserer Repatri­ierung sagten. Bisher saßen sie nur schweigend dabei, wenn DDR-Vertreter sprachen.

Im .Stillen dachte ich an Mischa,  sagte aber nichts. Vielleicht war durch Intervention Panfilows nachträglich beschlossen wor­den, dass wir nicht nach der BRD gehen dürfen. Vielleicht wollte man uns durch einen solchen Brief Gelegenheit geben, unsern Entschluss zu ändern und uns bereit zu erklären, in der DDR zu bleiben«

Später (s. unten Punkt 29) erfuhr, ich, dass der 9.10.56 ein Stichtag war; wer bis dahin, sich bereit erklärt hatte, in der DDR zu bleiben, wurde repatriiert; die andern galten als Westdeutsche oder' Österreicher. Wir gingen von Dworjezki. Wir schrieben unsere beinahe gleich­lautenden Briefe', dass wir über die DDR in die BRD zurückkehren möchten; natürlich hätten wir nichts gegen eine direkte Repa­triierung in die BRD einzuwenden, wenn dies möglich wäre. Wir zeigten die Briefe am 5.10. Hartenhauer und Streich, die gegen unsere Formulierungen nichts .einzuwenden hatten. Hätte sich jemand von uns für den Verbleib in der DDR erklärt, wäre" er vielleicht mit dem 5.Transport am 24.10.56 mitgekommen.

17. Hartenhauer und Streich erklärten, die neue Sachlage sei ihnen vollkommen unklar und das Verhalten von Oberst Kusnezow widerspreche in unserm Falle allen Vereinbarungen zwischen der DDR und der UdSSR. Streich flog am Samstag, 6.10.56, nach Moskau und wollte dann dort die Lage persönlich klären. Er nahm unsere Pässe mit, um eventuell gleich das Ausreisevisum eintragen zu lassen. Er meinte es wahrscheinlich ehrlich und glaubte, nur an ein kleines Mißverständnis. Streich wandte sich tatsächlich in Moskau sofort an Kusnezow, der ihm sagte, mit den Westdeutschen hätte er nichts zu tun und er soll sich nicht mehr um uns kümmern. Darauf telefonierte Streich mit Wolff in Berlin, der von der veränderten Situation
entsetzt war, aber auch nichts ausrichten konnte. Nun war andererseits bereits im Aug.56 vom sowjetischen Außenminlsterlum der Botschaft der BRD in Moskau untersagt worden,
einen Beamten zu uns nach Suchumi zwecks Kontaktaufnahme zu senden. Die Begründung war, dass die. Sowjetregierung seinerzeit (Aug.55) mit der Regierung der DDR einen Vertrag geschlossen habe, wonach allein der DDR die konsularische Vertretung von
uns zustehe.

So hingen wir' nun ganz in der Luft, weder DDR, noch BRD.

 

18. Am 7.10.56 telegraphierte, ich meinem Bruder: "Verzögerung der Abfahrt." Er scheint aber unsern Vater nicht benachrichtigt zu haben. Am 16.10.56, dem Tag, wo ich gedacht hatte, in Hei­denheim, einzutreffen, wartete mein 80jähriger Vater mit Apfel­kuchen vergeblich auf mich.

19. Am 8.10.56 telegraphierte mir mein Bruder, dass am 28.9.56 die Pässe von der BRD-Botschaft (in eingeschriebenem Brief mit Rückschein) an uns geschickt wurden. Sie kamen aber nicht an und gingen auch nicht zurück. Es waren etwa 8 Pässe, darunter auch für Heilbron und Orlamünder. Ich telegraphierte am 10. Okt. zurück: "Von Moskau nichts eingetroffen. 33 Kisten fertig gepackt. Von Seiten der DDR alles genehmigt. Ich und einige ähnliche Fälle noch keine Ausreisevisen erhalten. Daher Abreise unbekannt."

Anstoß zu dieser Pass-Sendung durch die Botschaft der BRD war vielleicht das Bekanntwerden des Eintreffens des ersten Rück­transportes in der DDR am 23.9.56.

Am 15.5.56 hatte ich Passbilder, am 24.5.56 eine Reproduktion des Heimatscheines, am 30.5.56 einen ausgefüllten eigenen Paßantrag auf mir von Aibling auf Anforderung gesandtem For­mular -mit nach Vorbild bei. Scheimeister selbst angefertigtem Zusatzformular, anfangs Juni nicht verwendetes Passbild in Halbprofil, am 3.7. und 11.7.56 Paßantrag für meine Familie nach Aibling gesandt.

20. Am Montag, 15.10.56, begann ich wieder zu arbeiten, weil mein Urlaub vorbei war. Am gleichen Tage traf Rompe, ein Phy­siker .und Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, ein. Er war schon einmal Ende Sept./Anfang Okt. in Agudsera gewesen. Dabei hatte ihn Ostermann getroffen und mit ihm gesprochen. Ostermann hatte durch sein Verhalten erreicht, dass er keinem Transport zu geteilt war. Nun unterhielt er sich ausführlich mit Rompe. Dieser bot ihm .eine Dozentenstelle in der DDR an, und Ostermann war einverstanden. Nun am 15«"10..56 sagte Rompe zu Ostermann, er glaube, es sei jetzt schwierig, noch zu erreichen, dass er repatriiert würde, denn er stehe in Mos­kau bereits auf der westdeutschen Liste.

Ich sprach auch mit Rompe unter 4 Augen. Ich legte ihm dar, was die DDR-Vertretung uns zugesagt hatte und wie es ausge­laufen ist. Er wußte dazu auch nichts zu sagen. Nach einigen Tagen fuhr Rompe wieder weg. Vielleicht hatte er noch einige für die DDR gewinnen und bei den sowjetischen Behörden erreichen wollen, dass diese dann gleich repatriiert würden; das letztere war jedenfalls ein Fehlschlag.

21. Am Mittwoch,  24.10.56. ging der 5.Transport weg, wieder ohne uns. Golecki und Faulstich, die in diesem Transport fuhren, hatten längeren Aufenthalt in Moskau beantragt; das wurde ihnen abgelehnt.

Der Transport mit dem Rest der Ostdeutschen sollte erst in einigen Wochen stattfinden.

Am 25.10.56 rief uns andere, d.h. alle als westdeutsch oder Österreicher verdächtige, Tschelidse zusammen. Er erklärte uns, Ende des Jahres seien wir entsprechend dem uns in Moskau
(am 3.9.55) bekannt gegebenem Regierungsbefehl nicht mehr da; wir würden unser Weihnachtsfest in Deutschland begehen. Einzelheiten könne er uns in einigen Wochen mitteilen, wenn er wieder von einer Dienstreise nach Moskau zurück sei. Dass die andern, die bereit waren, in der DDR zu bleiben, früher fahren konnten, sei der Vermittlung der DDR zu verdanken. Die meisten von unserm Rest hofften daraufhin, direkt nach der BRD repatriiert zu werden. Ich legte das für mich aber so aus, dass es wohl möglich ist, dass  wir alle in die DDR abgeschoben werden
sollen - (ich dachte an "Mischa"); denn der Frage, nach welchem Deutschland wir repatriiert würden, wich Tschelidse elegant aus.

Ich schrieb allerdings meinem Vater schon am 25.10.56, was uns offiziell gesagt worden war, Vater erfuhr im Dez., dass in Heidenheim-Schnaitheim gerade eine 3-Zimmer-Wohnung zu haben sei. Er mietete sie zum 1.1.57. Als ich das dann am 21.1.57 erfuhr, telegraphierte ich zurück, die Wohnung sofort zu kün­digen. Doch musste er für 3 Monate Miete bezahlen: 3mal 105 DM.

Während Tschelidses Aufenthalt in Moskau erfuhren wir und natürlich auch unsere sowjetische Verwaltung, dass die repatri­ierten Sorge und Fritsche illegal nach der BRD abgehauen sind. Hartenhauer sagte mir etwas später, dass die Sowjetregierung nun von der Regierung der DDR verlange, Maßnahmen zu ergreifen, damit keiner von uns sich nach dem Westen absetzen könne. Die DDR-Regierung versuche der Sowjetregierung klar zu machen, dass solche Überwachungsmethoden, wie sie in unserm Fall in der Sowjetunion durchgeführt wurden, in der DDR aus verschiedenen Gründen unmöglich sind; doch hätte die Sowjetregierung dafür kein Verständnis.

Tschelidses Aufenthalt in Moskau dauerte länger als vor­gesehen. Am 28.11.56 war er erst wieder anwesend, ließ sich aber nicht bei uns blicken, sondern nur verkünden, dass vor dem 12.12.56 keine Regierungsentscheidung über uns zu erwarten sei. Wir fragten uns, wozu noch Regierungsentscheidung, wenn doch schon entschieden war, dass wir noch 1956 nach Deutschland kom­men.

Nun hatte Tschelidse wöchentlich einmal abends öffentliche Sprechstunde für alle Institutsangehörigen im Zimmer von Federjenko in Agudsera. Wir gingen nun am Freitag, 7-12.56. geschlossen dahin. Tschelidse wollte auf das, was er uns am 25.10.56 gesagt hatte, nicht mehr eingehen. Über unser Schick­sal werde noch von der Sowjetregierung beraten. Das war etwa dieselbe Auskunft wie am 16.2.55 im Klub in Tuschino.

24. Am Montag, 10.12.56, ging der f. und letzte Transport in •   die DDR. Es handelte sich um Deutsche, die ausnahmslos nie etwas anderes erklärt oder angedeutet hatten, als dass sie in der DDR bleiben würden. Sie waren deswegen so lange in Agud­sera, weil sie noch einige Arbeiten abzuschließen hatten. Hinterher sagte mir Hartenhauer, dass dieser Transport durch die Flucht von Sorge gefährdet gewesen wäre. Die Sowjetregierung hat nach Bekanntwerden dieser Flucht zunächst nicht nur unsere "westdeutsche" Repatriierung gesperrt und einer neuen .Erörterung unterzogen, sondern wollte auch den II. Transport nicht mehr abfahren lassen. Nur der Vermittlung der DDR-Botschaft sei es gelungen, diesen Transport noch in die DDR zu repatriieren.

25. Am Samstag, 15.12.56. sah ich nach Institutsschluß Dwor­jezki auf unserer Hauptstraße im abgeschlossenen Wohnrevier gehen. Ihm kam von weitem Hartenhauer entgegen. Als er diesen erblickte, drehte er sich um, als ob er unangenehmen Fragen ausweichen wolle. So kam er dann aber gerade auf mich zu. Ich fragte Dworjezki nach unsern Rückkehraussichten. Er ant­wortete lächelnd (spöttisch, verlegen,  zynisch?): "Das Jahr ist noch nicht zu Ende; Sie können immer noch abreisen; Sie haben doch fertig gepackt."

 

26. Am Donnerstag,. 20.12.56, erhielt Hartenhauer von seiner Dienststelle den Befehl, sofort nach Berlin zurückzukehren. Er war sehr niedergeschlagen darüber, dass er abreisen sollte, ohne dass  zuvor alle repatriiert worden waren. Aber die DDR hatte der Sowjetunion nicht garantieren können, dass keiner von uns aus der DDR fliehen werden . Am Samstag, 22.12.56. flog Hartenhauer mit Familie von Dranda weg. Emma hatte so ihre letzte und beste Freundin verloren.  Am 20.12.56 hatte ich noch einen eingeschriebenen Brief mit Rückschein an den Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR Woroschilow losgelassen. Der Brief ist an seinem Bestimmungsort angekommen.

27. Am Dienstag, 8.1.57, wurde gegen 15 Uhr im Institut bekannt gegeben, dass 14 Personen von uns mit einem Bus nach Sinop fahren; darunter Karin Blasig, Fuhrmann, Lertes, Möller, Fischer, Schirge, Pingel, Goldberg, Hegermann, Bleschke, Sattler, Lonn, Heilbron. Etwa eine halbe Stunde später wurde der Rest teils zu Dwor­jezki (7 Personen) ins Zimmer, teils in das Zimmer von Martinow gerufen (auch 7 Personen). Im Zimmer von Martinow saß bei un­serem Eintreffen der wissenschaftliche Leiter der beiden Insti­tute. Kwarzchawa, ein weißhaariger Mann, der überhaupt nichts mit uns normalerweise zu tun hatte. Unsere Gruppe bestand aus Orlamünder, Joswig, Tschauner, mir, noch zwei andern und dem wegen Krankheit nicht anwesenden Reh. Kwarzchawa sagte zu uns: "Ihr Aufenthalt in der Sowjetunion ist bis Dezember 1958 verlängert. Dann dürfen Sie nach Deutschland zurückkehren!" Dasselbe wurde dem zweiten Viertel im Zimmer Dworjezkis von Tschelidse gesagt. In Sinop erfuhr aber die andere Hälfte aus dem Munde von Starikow, der früher einmal kurzzeitig un­ser Schefbegleiter in Kunzewo war: "Ihr Aufenthalt in der Sowjetunion ist bis Ende 1958 verlängert; dann dürfen Sie nach Westdeutschland ausreisen; wenn Sie jedoch eine Stelle in der DDR erhalten und annehmen, können Sie schon vorher nach der DDR ausreisen. Anträge hierfür sind über die zustän­digen sowjetischen Stellen einzureichen."

28. Bedrückt ging ich nach' Hause. Mathilde war mit Emma in die Stadt gefahren und eben zurückgekehrt. Sie standen beide, im Kistenzimmer, als ich eintrat. Eben hörte man das Pfeifen der Lokomotive eines in 500m Entfernung vorbeifahrenden Zuges. Emma sagte zu mir: "Papa, der Zug pfeift, wir sollen nach Hause."  Und da musste ich zur Antwort geben, dass wir noch bis Ende 1958 verdonnert sind. Erst hinterher erfuhr ich von Frau Lertes, dass der andern Hälfte, in Sinop etwas anderes gesagt worden war als uns in Agudsera.

29. Unsere Verwaltung rechnete gleich von vornherein damit, dass wir am folgenden Tag, Mittwoch, 9.1.57, streiken würden. Im Gegensatz zum 1.7.55 hatte diesmal der Streik wenig Sinn.
Er nützte mehr der sowjetischen Verwaltung, die so die Lohnzahlung für diesen Tag sparte. Gearbeitet wäre auch ohne Streik nicht geworden, weil der Tag so und so mit Diskussionen
und mit Befragung von Starikow, der im Zimmer Federjenkos Sprechstunde hielt, verbracht wurde. Lonn, Möller und Pingel streikten nur halb; sie gingen ins Institut, setzten sich an ihre Arbeitsplätze, hatten aber ihre Marken auf der dem Eingang gegenüber befindlichen Tafel nicht umgehängt (von der einen Hälfte auf die  andere). Jeder, der Starikow sprechen wollte, wurde einzeln vorgelassen. Auch ich war dort und stellte einige Fragen. Es wurde für die weitere Verlängerung unseres Aufenthaltes keine Begründung genannt die Regierung habe es nicht nötig, ihre Verordnungen zu begründen. (Wenn wir vier, Goldberg, Lonn, Pingel und ich, keine DDR-Pässe wie die andern Westdeutschen angenommen hätten, hätte die sowjetische Verwaltung als Grund angeben können, wir hätten nicht den Vorschlag der DDR-Delegation befolgt. Den wahren Grund, dass noch niemand von uns nach der  BRD darf, durfte sie nicht zugeben, weil sie damit, eine Diskriminierung zwischen den beiden formal  als gleichberechtigt anerkannten deutschen Staaten zugegeben hätte). Die Frage, ob nicht wenig­stens die Familienangehörigen zurückgeführt werden könnten, wurde von Starikow damit beantwortet, dass ich einen Antrag einreichen solle, was Ich in den nächsten Tagen  auch tat, wobei ich aber nie eine. Antwort erhielt (ebenso wie bereits 1951). Im Gespräch mit Ostermann wurde von Starikow geäußert, dass alle als westdeutsch gelten, die bis zum 9.10.56 sich nicht für den Verbleib in der DDR erklärt hatten. Joswig stellte die Frage, ob wir nun Geld direkt nach Westdeutschland überweisen könnten. Auch er sollte einen entsprechenden Antrag stellen. Darauf kam nach etwa 2 Monaten die Antwort, dass die­jenigen, die im April 56 bereits die Geldüberweisung nach der BRD beantragt hätten, Geld direkt nach Westdeutschland über­weisen könnten. Das war dann ein Lichtblick; denn daraus er­gab sich indirekt, dass wir eines Tages doch direkt nach der BRD entlassen würden. Wir konnten 30% des Gehaltes überweisen, die Österreicher allerdings  50% nach Österreich; nach wie vor konnten wir stattdessen auch 50% nach der DDR überweisen. Für Österreich und BRD galt der offizielle Kurs (4 Rubel = 1 US-Dollar = DM-West 4.20); kurz hatte man versucht, uns den bedeutend ungünstigeren Touristenkurs (1 Rubel = 1 US-Dollar), der am 1.4.57 eingeführt wurde, anzudrehen. Dagegen hatten wir aber energisch protestiert, weil wir keine Touristen seien.

30. Am Donnerstag, 17.1.57, wurden unser 8 Mann zu Dworjezki gerufen; Buschbeck, Eitzenberger, Joswig, Möller, Fischer, Goldberg und Sattler gehörten außer mir dazu. Es wurde, uns ein am Vortag einge­troffener Herr Schmidt als neuer DDR-Vertreter vorgestellt. In seiner Gegenwart erklärte Dworjezki, dass er den Grund für die Verlängerung unseres Aufenthaltes in der Sowjetunion nicht kenne. Schmidt hatte in Berlin Hartenhauer nur ganz kurz in einer allgemeinen Versammlung gesprochen, in der letzterer Bericht über seine Tätigkeit in Agudsera abgelegt hatte. Einzelheiten über uns hatte ihm daher Hartenhauer gar nicht erzählen können. Er war der Meinung, wir hätten irgendetwas "ausgefressen" und müssten deswegen noch länger in der Sowjet­union bleiben. Auch er lernte nun rasch die Sowjetunion anders kennen, als er sie sich vorgestellt hatte.

31. Mehrere stellten nun Anträge für die DDR, in denen sie sich bereit erklärten, in der DDR eine Stelle anzunehmen und da zubleiben. Sie besprachen diese Anträge meistens mit Schmidt;
dann reichten sie sie bei der sowjetischen Verwaltung ein. Nichts passierte. Erkundigten sie sich bei den sowjetischen Steilen, warum sich nichts rühre, dann erhielten sie zur Antwort, die Anträge seien an die DDR weiter geleitet worden, aber offensichtlich wolle die DDR sie nicht haben.. Erkundigten sie sich aber bei dem DDR-Vertreter Schmidt, dann erfuhren sie, dass die DDR die Anträge gerne genehmigen würde, aber die Sowjetregierung fordere von der DDR-Regierung die Garantie der Verhinderung einer eventuellen Flucht nach dem Westen, und diese könne die DDR nicht geben; daher genehmige die Sowjetregierung die Anträge nicht. So verschwand der Unterschied zwischen den beiden Hälften unserer Gruppe, zwischen denen,
die eventuell vorzeitig in die DDR zurückkehren dürfen, und denen, denen das von vornherein nicht zugesagt war wie z.B. mir.

Nur der Antrag von Karin Blasig hatte einige Zeit nach dem Tode Rehs Erfolg. Unter Schmidts Nachfolger Michaelis kehrte sie Ende August 57 nach der DDR zurück. Ihre Eltern und Geschwister waren schon seit Ende 56 dort; aber sie hatte mit Reh nach Westberlin wollen. Ich stellte im Febr. 57 auch noch über Schmidt einen Antrag auf Repatriierung meiner Familie in die DDR, natürlich umsonst. Die Anwesenheit Schmidts hatte wenigstens den Vorteil, dass 2 Vollmachtsangelegenheiten meiner Frau im Zusammenhang mit - dem Tod einer Tante und ihrer Stiefmutter bequem über Schmidt und die DDR-Botschaft erledigt werden konnten. Auch erreichte er, dass wir Ostersamstag, 20.4.57 frei hatten.

32. Nachdem die Pässe, die die BRD-Botschaft uns Ende Sept.56 gesandt hatte, spurlos verschwunden waren, probierte die Botschaft einen neuen Weg aus. Sie sandte einen zweiten Pass für Heibron an dessen Verwandte in der BRD, und diese schickten ihn als eingeschriebenen Brief an Heilbron. Das funktionierte. Diese Methode wurde mehrfach wiederholt. Am 27.3.57 schrieb ich daher meinem Bruder: "Wilhelm kann Dir zwei Büchlein schicken. Dann hast Du wieder einmal etwas, für uns… Die Heftchen vom König habe ich nicht mehr." Wilhelm war der Vorname des BRD-Botschafters Wilhelm Haas und bedeutete die BRD-Botschaft in Moskau. Mit "Büchlein" sind Pässe gemeint. "Dann hast Du wieder einmal etwas für uns bedeutet: "Schicke sie uns dann." "König" war der Familienname des damaligen DDR-Botschafters in Moskau; ich sagte also, dass ich die DDR-Pässe nicht mehr besitze. Am 5.5.57 schrieb ich dann: "Mich interessiert zunächst nur eines der Büchlein. Das andere kannst Du zunächst behalten, bis ich das erste ausgelesen habe.“ D.h. mein Bruder soll erst nur meinen Pass senden, und wenn ich dessen Ankunft bestätigt habe, erst den andern für Frau und Kinder. So schickte Raimund meinen zweiten Pass vom 23.5.57 am 19.6.57; er kam am 1.7.57 an und wurde von mir bestätigt. Am 13.7.57 sandte mein Bruder dann die zweite Ausgabe des Passes meiner Familie; er kam am 22.7.57 an. So hatten wir unsere BRD-Pässe.

33. Der DDR-Vertreter Schmidt reiste Ende Juni oder Anfang Juli 57 nach der DDR zurück. Nach einigen Wochen kam als neuer Vertreter Michaelis mit Frau. Er wurde aber erst nach längerer Zeit von einem untergeordneten Angestellten des Instituts einigen Deutschen vorgestellt. Hartenhauer und Schmidt hatten ihr Büro im Institutsgebäude; Hermann Michaelis erhielt nur noch einen Raum im Verwaltungsgebäude außerhalb des  Instituts zugewiesen. Die sowjetischen Stellen ließen die DDR-Vertreter immer mehr merken, dass sie nichts mehr mit uns zu tun hätten. Das mag mit den über das ganze Jahr 1957 laufenden Verhandlungen zwischen BRD-Botschaft und Sowjetregierung zusammengehangen haben.

34. Am 4.7.57 schrieb ich an das Vollzugskomitee des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes nach Moskau. Bereits am 18.7. wurde mir folgende Antwort geschrieben: "… Wir haben die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass im Zusammenhang mit dem Charakter der von Ihnen aufgeworfenen Frage wir Ihr Gesuch an die kompetenten Organisationen mit der Befürwortung seiner Erörterung weitergeleitet haben. Wir baten dabei, Sie von den Ergebnissen der Erörterung in Kenntnis zu setzen"  .

Nochmals schrieb ich am 4.9.57 (unter Hinweis auf Mikojan, s. unten) und erhielt beinahe wörtlich dieselbe Antwort vom 17.9.57.
Am Mittwoch, 10.7.57, traf ich im Suchumer Strandbad den DDR-Botschaftsangestellten Streich. Er war mit Familie da. Er musste, mich gesehen haben, ließ aber nichts merken. Nach über eine Stunde Beobachtung    ging ich zu ihm und fragte, was denn mit unseren DDR-Pässen los sei; er meinte nur, diese könnten wir vorläufig nicht wieder erhalten.

Wegen eventueller vorzeitiger Rückführung der Familie schrieb Raimund am 29.6.57 ans Deutsche Rote Kreuz, das ja meinem Vater Anfang Mai geantwortet hatte, dass ich noch wegen Fertig­stellung einer Arbeit bis Ende1958 in der Sowjetunion zu bleiben habe. Eben dahin schrieb- auch mein Vater nochmals Mitte August und dazu gleichzeitig an Mikojan; dieser stellvertretende Ministerpräsident ersten Ranges hatte nämlich bei einem Besuch in der DDR etwa am 10.Aug.57 erklärt, dass längst keine Deutschen, die im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen in die Sowjet­union gekommen seien, mehr in der Sowjetunion wären. Dabei hat er sich zweifellos an den Begriff der Kriegsereignisse gehalten, wie er am 15.5.57 vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil BVerwG VC 343/56 festgelegt wurde und wonach die deutschen Spezialisten nicht infolge der Kriegsereignisse, sondern der Kriegsfolgen zum Reparationsdienst verpflichtet wurden und daher nicht unter das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz fallen. Die  gleiche Ansicht äußerte auch ich am 27.8.57 in einem Brief an meinen Vater.

Über Deutsche, die als Kriegsfolge nach der Sowjetunion kamen, hat Mikojan nicht gesprochen. Aber er hat weiter ausgeführt, dass deutsche Staatsangehörige, die sich noch in der Sowjetunion finden sollten, auf Wunsch ungehindert ausreisen können. Das war der Anlass nicht nur für einen Brief meines Vaters an Mikojan, sondern auch für meinen zweiten Brief an das sowjeti­sche Rote Kreuz.  Auch an das Auswärtige Amt der BRD schrieben mein Vater und mein Bruder getrennt unter Bezug auf Mikojan.

35. Ende Sommer/Anfang Herbst 57, zu der Zeit, wo Moskauer Beamte gerne Dienstreisen nach dem Süden machen, um gleich den Urlaub anhängen zu können, erschien Oberst Kusnezow in Sinop. Viele von uns wurden zu Einzelgesprächen vorgeladen oder zu­gelassen. .Er wollte wohl unsere Stimmung prüfen. Ich war auch darunter. Orlamünder hatte in seinem Gespräch mit Kusnezow gesagt, dass er einen BRD-Pass besitze; dieser sei ihm von der BRD-Botschaft zugesandt worden, und er bedanke sich bei ihm, Herrn Kusnezow, dafür, dass er offensichtlich den damaligen Antrag an die BRD-Botschaft weiter geleitet habe (s. oben Punkt 8). Indessen hatte Qrlamünder seinen Pass auf ebenso krummen Wegen erhalten wie ich. Aber obwohl das auch Kusnezow wusste, musste er so tun, als ob der Pass tatsächlich auf Grund der weiter geleiteten Anträge zugestellt worden wäre, die natürlich nie weitergeleitet worden waren, was aber nicht eingestanden werden durfte.

36. Am Samstag, 4.1.58, ließ Tschelidse bekannt geben, wir sollten alle, unsere Pässe abgeben, damit die Ausreisevisen eingetragen werden könnten; in etwa einem Monat würden wir repatriiert. Sollte das nur ein Trick sein, um uns unsere westdeutschen Pässe abzunehmen und uns wieder rechtlos zu machen? Zögernd gab der eine nach dem andern seinen Pass in den darauf folgenden Tagen ab. Wer keinen hatte, musste jetzt noch schnell zwischen DDR, BPR und Österreich entscheiden. Von uns 26 blieben so schließlich 21 für die BRD und 3 für die DDR: Ostermann, Berner und Hegermann. Der Fall Ostermann ist bereits oben in Punkt 20 ausreichend erklärt. Die Fälle Berner und Hegermann bedürfen der Erklärung.

37.  Frau Hegermann, wohnt  in Westberlin; Hegermann gehörte daher zu den echten Westdeutschen (s. Punkt 10). Er überwies regelmäßig etwa die Hälfte seines Gehaltes nach Ostberlin an eine Tarnadresse. Frau Hegermann, holte sich dort das Geld ab, nahm es nach Westberlin, tauschte nur so viel um, wie sie brauchte, und den Rest hob  sie im "Sparstrumpf" auf. So hatte sie etwa 40000 DM-Ost angesammelt, als die DDR plötzlich alles bisherige Papiergeld für ungültig erklärten und die Möglich­keit zum Umtausch in neues Geld nur wenige Stunden dauerte (was auch die US-Besatzungsbehörde in Westdeutschland im. Frühjahr 1958 in Bezug auf das amerikanische Besatzungsgeld tat). Formal war das angesparte Geld von Frau Hegermann verlo­ren. Sie ging mit dem ganzen Geldhaufen nach Ostberlin und erklärte Ihre Lage Irgendwo im Innenministerium, wo unsere Suchumer Situation bekannt war. So wurde ihr schließlich gestattet, das ganze Geld nachträglich umzutauschen; sie hatte daher keinen Verlust mehr; aber sie musste nun das Geld auf einem Konto in Ostberlin anlegen und dürfte davon nur so viel nach Westberlin nehmen, als sie zum Leben unbedingt brauchte. Daher beschloss Hegermann, auf Westberlin zu verzichten und nach der DDR zurückzukehren. Er nahm eine Stelle in Dresden an und fühlt sich dort offensichtlich ganz wohl und ist zu­frieden.

38. Berner war alter Nationalsozialist. Ich lernte ihn noch vor Hitlers Machtergreifung 1933 in der "Mapha" (mathematisch­physikalisches Institut) der Universität kennen; er gehörte bereits damals der SA oder einem ähnlichen Verbande an. So wurde er 1945 aus politischen Gründen von der sowjetischen Militäradministration verhaftet und dann später in den Status eines Spezialisten übergeführt. Seine Familie (Frau und vier Kinder) war in Ostberlin. Etwa 1954 starb die Frau ziemlich plötzlich. Die Kinder wurden, bei Verwandten untergebracht. Kurz vor der DDR-Repatriierung 1956 entschloss er sich für Westberlin. Nach dem Rückschlag im Jan  57 (Wir sollten noch bis Ende 58 bleiben!) wollte er nun besonders demonstrativ zeigen, dass er sich jetzt für die DDR entschlossen habe. In der Zeit vom Juli 1955 bis Herbst 1956 haben 3 Deutsche Russinnen geheiratet: Rühle eine (seine) Dolmetscherin und Sekretärin des Werkes Moskau Postfach 1323; Schwarzer eine Krankenschwester der Polyklinik dieses Werkes; Senst die erste Sekretärin von Dworgezki in Agudsera. Alle diese 3 Deutschen hatten nie zum geringsten Zweifel Anlass gegeben, in der DDR ihren festen Wohnsitz zu nehmen und zu bewahren.

Vor unserm abgeschlossenen Wohngelände in Agudsera war ein kleiner Lebensmittelladen, der 55/56 von einer russischen Verkäuferin namens Sina geführt wurde; diese hatte einen etwa
9jährigen Sohn. Verkäufer hatten Monatslöhne von wenigen hundert Rubeln. Bei Verkäufern kommt es oft vor, dass von irgendeiner Ware etwas fehlt. Nach der sowjetischen Gesetzgebung muss ein Verkäufer in diesem Falle sofort Ersatz zum vollen Ladenpreis aus der eigenen Tasche leisten. Sonst gilt er selber als der Dieb der Fehlware und wird entsprechend verurteilt. Die Russin Sina hatte es besonders schwer wegen ihrer georgischen Vorgesetzten, besonders seit deren Nationalstolz anfangs 1956 durch Chruschtschow beleidigt worden war. Es fehlten ihr einmal 800 Rubel in der Kasse. Berner half ihr. Sie wurde seine Freundin, und schließlich heirateten die beiden anfangs 1957  .   .
Bei der Bekanntgabe der Verlängerung unseres Aufenthaltes in der Sowjetunion im Jan.57 (s. Punkte 27 und 29) wurde auch gesagt, dass man nochmals Familienangehörige nachkommen lassen könne. Berner ließ 3 von seinen 4 Kindern kommen: zwei Töchter und einen Sohn.

Berner wollte nun mit seiner russischen Frau und seinen 3 Kindern nach Dresden in die DDR zurückkehren. Die Töchter jammerten: Alle gehen nach Westdeutschland, und wir sollen in die blöde DDR.  Aber der Vater ließ sich davon nicht beein­flussen. Er wollte ja seine russische Frau behalten. Doch erhielt diese mit ihrem Sohn im Gegensatz zu den Fällen Rühle, Schwarzer und Senst keine Ausreisegenehmigung. Die offiziellen Stellen erklärten zunächst, Sina käme etwa 2 Monate später nach Deutschland. Aber das ist nicht passiert. Als sich einige Monate nach der Niederlassung Berners in Dresden die Ausreise von Frau Berner nach der DDR aus unmöglich erwies, wurde die Ehe ferngeschieden.

39.  Ich hatte dem DDR-Vertreter Michaelis gegenüber so getan, als ob ich an einer Stellung in Dresden interessiert wäre. Denn man musste schließlich 2-gleisig fahren, da man nicht wissen konnte, was einem bevorsteht. Nachdem nun am Vormittag des Samstag, 4.1.58, uns erklärt worden war, dass wir in etwa einem Monat repatriiert würden, ging ich mittags zu Michaelis in die Wohnung und lud ihn mit Frau zum Abend zu uns ein. Dann setzten wir uns am Abend zu viert an den Tisch, und ich schenkte Wein ein. Dann kam die Eröffnung: Da meine Frau von München sei und unbedingt wieder in diese Gegend wolle, ich schließlich auch keine Verwandten im Osten habe, hätten wir beschlossen, dabei zu bleiben, nach Westdeutschland zu gehen. Die beiden machten erschrockene Gesichter und wussten nicht, wie sie re­agieren sollten.

40. Erst wurde ein Plan aufgestellt, nach dem wir in 2 Gruppen am 25. und 27.1.58 abfahren sollten. Ich gehörte dabei der.2. Gruppe an. Dann hieß es, die Reise werde verschoben. Bereits erfassten uns wieder schlechte Befürchtungen. Da erhielt Lertes als unser ältester am 21.1.58 ein Telegramm von der BRD-Bot­schaft in Moskau: Die Sowjetregierung habe mitgeteilt, dass er und 20 Kollegen mit Familien in Kürze in, die BRD zurückkehrten. Jetzt erst waren wir der Rückkehr einigermaßen sicher. Nebenbei bemerkt, machten wir die interessante Feststellung, dass die Laufzeit unserer Korrespondenz von und nach Deutschland nach dem 4.1.58 bedeutend kürzer war; bei Flugpost höchstens 4 Tage gegenüber mindestens 8 Tagen vorher; da scheint eine Sonderzensurstelle weggefallen zu sein.

Wie wir später bei unserer Rückkehr in Friedland vom Vertreter des Flüchtlingsministeriums erfuhren, fand einige Tage nach dem 20.I.58, an dem die BRD-Botschaft die oben erwähnte Nachricht von der Sowjetregierung erhalten hatte, eine Besprechung der Vertreter einiger Ministerien darüber statt, wie wir bei unserer Rückkehr zu empfangen seien und was wir an Begrüßungs­gabe, zu erhalten hätten. Ein entsprechender Erlass des Flücht­lingsministers kam am 31.1.58 heraus, Zeichen III 1a-9440/5-731/58. Die Bekanntgabe dieses Erlasses wurde mir vom Flücht­lingsministerium mit Brief III 1a-9440/5-1519/59 vom 16.5.59 wegen des vertraulichen Charakters verweigert. Etwa zur gleichen Zeit, wie diese Entscheidungen über uns in Bonn fielen, nämlich am 28.1.58, erließ der Bonner Arbeitsminister eine Verordnung II c5-2995.15-39/58, wonach die Spezialisten nicht mehr als Heimkehrer anerkannt werden dürfen. Am 20.1.58 war ich zum letzten Mal ganztägig und am 21.1. noch vormittags im Institut in Agudsera. Am Freitag, 24.1.58, wurden unsere 21 Kisten kontrolliert und  zum Versand gebracht. Am 30.1.58 war wieder Abschiedsbankett im Klub. Die sowjeti­schen Vertreter wünschten uns allen besten Erfolg bei unserer zukünftigen Arbeit am neuen Ort. Leider hat keiner der Deutschen, die viele Worte machten, einen entsprechenden Wunsch für unsere ehemaligen Arbeitgeber geäußert.

Die Repatriierungen fanden nun so statt:

Am Samstag, .1.2..58, Berner (4), Hegermann (1) und Ostermann (5) nach der DDR, insgesamt 10 Personen.

Am Montag,: 3.2.58, Buschbeck (6) und Eitzenberger (2) nach Österreich, insgesamt 8 Personen. Die Westdeutschen waren wieder in 2 Gruppen eingeteilt, aber anders als zuerst. Ich gehörte jetzt zur ersten Gruppe, die am Samstag, 8.2.58, abfuhr. Die 2.Gruppe folgte am Montag, I0.2.58.

41. Am Samstag, 8.2.58, waren wir reisefertig. Der Koch von der Stolowaja war da und hoffte, ein oder zwei Zimmer von un­serer Wohnung zugesprochen zu erhalten; ihm gefiel besonders  mein Kleiderschrankersatz. Er hatte privat eine Bude für 100 Rubel/Monat. Tamara war auch da; sie erhielt den Schlüssel zum Schuppen und konnte sich da noch alle zurückgelassenen Sachen nehmen. Mit einem Bus wurde das Handgepäck eingesammelt. Wir waren als letzte dran. Es war schon 12 Uhr. Dann ging es rasch zum großen Bus. Dieser fuhr diesmal nicht vom Verwaltungsgebäude wie bei allen andern Repatriierungen ab, sondern von,  dem Haus, wo Orlamünder und Lertes wohnten. So versäumten es einige Russen, sich von uns zu verabschieden. Um 12.30 gesetzlicher Ortszeit fuhren wir weg. Am Bahnhof Suchumi wurden wir erst mit unserm Gepäck in den Wartesaal für Offiziere gebracht. Wir selber hatten 6 Koffer, dazu Emma ihren kleinen Koffer und ihren Rucksack; dazu kam eine Milchkanne mit dem Mandarinenpflänzling und weiteres kleines Handgepäck. Im Wagen verhielten wir ein Abteil für 4 Personen (Liegeplätze). Vor Abfahrt des Zuges gingen noch Dworjezki und Tschelidse durch den Wagen und verabschiedeten sich von jedem einzelnen. Tschelidse sagte zu mir: "Nakonjez jedisch" (Schließlich fährst du nun). Um 13.35 Moskauer Zeit fuhr der Zug Suchumi-Moskau ab.

Auf der Fahrt gab ich vorbereitete Briefe in Sotschi, Ilowajsk und Charkow auf. Das Asowsche Meer war zugefroren. Am 9.2. wurde Karl krank: Angina. Am 10.2. morgens hatte er 39,1. In Tula kaufte ich schnell Wodka, 1/2 Liter für 43 Rubel (am 1.2.58 hätte dieses Getränk aufgeschlagen), damit Hals­umschläge gemacht werden konnten. Am 10.2.58 kamen wir um 14 Uhr auf dem Paweljzki Bahnhof in Moskau an. Oberst Kusnezow und eine Menge Gepäckträger war­teten auf uns. Busse standen vor dem Bahnhof bereit. Wir wurden zum Weißrussischen Bahnhof gebracht. Da kamen wir in einen Sonderwartesaal. Unsere Pässe mit den nötigen Visen wurden uns ausgehändigt. Das letzte Geld zur Überweisung wurde abgegeben. Mit Karl ging ich zum Bahnhofsarzt. Karl hatte da glücklicherweise nur noch 37,4°. Dann ging ich einige Schritte in das ver­schneite Moskau hinaus. Ich fühlte mich ganz besonders, einmal ein paar Schritte ohne Begleitung als freier Mensch in Moskau gehen zu können, wo ich sonst auf Schritt und Tritt begleitet worden war. In einem Brotwarenladen kaufte ich noch einiges Essbares. Um 18.15 fuhr der Zug nach Berlin mit uns ab. Am 11.2. morgens waren wir in Minsk. Ich warf meinen letzten Brief ein. Um  13 Uhr  kamen wir in Brest an. Unser Zug wurde auf andere Radachsen umgesetzt. Die Grenzkontrolle fand statt. 16.05 fuhr der Zug weiter. Der letzte Begleiter winkte vom Bahn­steig uns nach. 16.45 fuhren wir über die Grenze nach Polen. Emma weinte: "Jetzt verlasse ich das Land, wo ich geboren bin." Am 12.2.58 morgens 6 Uhr MEZ waren wir im Frankfurt/Oder. Wir mussten umsteigen. Vertreter der DDR-Regierung, darunter Hartenhauer, waren da. Wir stiegen in einen Triebwagenzug auf der andern Seite des Bahnsteiges. Wir erfuhren später, dass das der Triebwagenzug Berlin-Prag war, der nun für uns eingesetzt wurde und für den normalen Verkehr ausfiel. Wir erhielten, gestiftet von der DDR-Regierung,  jeder eine Papiertasche mit Essen und Apfelsaft. Natürlich hatten wir einige DDR-Begleiter im Zug. Wir fuhren bis Berlin-Wuhlheide und dann um Berlin herum nach Marienborn, wo wir gegen Mittag ankamen. Die DDR-Begleiter verließen uns, die letzte Grenzkontrolle kam; dann ging es weiter nach Helmstedt. Abgesehen von einem Heer von Reportern wurden wir von Herrn Stubbe als Vertreter des Auswärtigen Amtes und von einem Vertreter des Flüchtlingsministeriums empfangen. In 2 Bussen wurden wir nach Friedland gebracht. Da dauerte der Aufenthalt etwa einen Tag. In der Nacht vom 13. zum 14.2. fuhren wir nach Heidenheim.

42. Schlussbemerkung: Meine Interpretation der Ereignisse um unsere Rückkehr ist folgende:

1. Im Aug.55 wurde von der Sowjetunion mit der DDR ein Vertrag über unsere konsularische Betreuung geschlossen.
2. Wir sollten durch Vermittlung der DDR Ende 56 repatriiert werden.

3. Die DDR konnte nach eigenem Ermessen einigen von uns gestatten, nach der Bundesrepublik Deutschland weiterzureisen.
4. Die Liste der Personen, die auf diese Weise nach der BRD gekommen wären, kam im Sept.56 maßgebenden sowjetischen Verteidigungstechnikern zur Kenntnis; sie erhoben bei der Sowjetregierung dagegen Einspruch. Daher konnte ich (und die 3 andern) am 6.10.56 nicht fahren.

5. Man wollte mir Gelegenheit geben, mich für den Verbleib in der DDR zu erklären; daher sollten wir vier noch einmal unsern Standpunkt darlegen. Wir blieben aber bei unsern ursprünglichen Plänen.

6. Wer bis zum 9.10.56 keine Erklärung darüber abgegeben hatte, dass er in der DDR bleiben wolle, galt für die Sowjet­behörden als westlich.

7. In Verhandlungen mit. der DDR-Regierung wollte die Sowjetregierung genau festlegen, wem gestattet werden darf, weiter nach dem Westen zu gehen.

8. So sollten dann wir alle noch Ende 56 in die DDR zurückgeführt werden.
9. Als aber die Sowjetregierung durch die Flucht von Sorge erfuhr, wie leicht man aus der DDR über Berlin nach dem Westen gelangen kann, sperrte sie zunächst jede weitere Repatriierung und verlangte von der DDR-Regierung, energische Maßnahmen zur Unterbindung der Fluchtmöglichkeit zu ergreifen.

10. Die DDR-Regierung erließ im Dezember 56 das Republik­fluchtgesetz. Aber weiter kam sie damals dem Wunsch der Sowjetregierung nicht entgegen. Die Berliner Mauer wurde erst 5 Jahre später gebaut.

11. Nur dank besonderer Bemühung der DDR-Regierung bei der Sowjetregierung gelang es noch, wenigstens den Rücktrans­port von DDR-Willigen am 10.12.56 durchzuführen.

12. Da also, eine Flucht aus der DDR nicht unterbunden werden konnte, beschloss die Sowjetregierung, uns direkt nach der Bundesrepublik Deutschland zu repatriieren, aber vorher in hartnäckigen Verhandlungen möglichst viel dafür herauszu­schlagen und dabei uns auch noch länger festzuhalten.
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13. Es fanden praktisch ein Jahr Verhandlungen zwischen dem westdeutschen Sonderbotschafter Laar und der Sowjetre­gierung  über noch festgehaltenen deutschen Staatsangehörigen statt. Ohne unsere Repatriierung wurde kein Handelsvertrag abgeschlossen.

14. Wir wurden im Februar 1958 repatriiert und damit im Wesentlichen die ursprüngliche sowjetische Regierungsentschei­dung vom 30.6.55 eingehalten.  Im März 58 wurde dann der Handelsvertrag zwischen BRD und UdSSR unterzeichnet.

 

Ulm, den 31.12.1966

Dr. Helmut Breuninger